Verstehen - oder doch nicht?
Die Ausgangslage:
„Waren Sie am besagten Tag am Nachmittag am Bahnhof in Biel?“ fragt der einvernehmende Polizeibeamte.
Der Raum klein, die Temperaturen äusserlich wie auch innerlich hoch an diesem schönen Sommernachmittag. Die Einvernahme dauert schon fast 1,5 Stunden. Die Anwesenden: der Beschuldigte, ein junger Mann aus Liberia, die Übersetzerin aus Ägypten mit Schweizerpass. Die Protokollführerin aus Signau und erst seit einigen Monaten bei der Polizei, und der erfahrener Ermittler. Der Beschuldigte wurde im Raum Bahnhof Bern angehalten und auf die Wache gebracht. In seinem Rucksack wurde ein Kokaingemisch und Bargeld gefunden. Er hat in den ersten Aussagen zugegeben, gestern den Versuch machen zu wollen, Drogen in Bern zu verkaufen. Nun geht es darum, seit wann und wie häufig er mit Drogen handelt und woher er die Drogen hat.
„Ich wohne nicht in Biel. Manchmal gehe ich zum Bahnhof um Zigaretten zu kaufen. Es ...“
„Beantworten Sie bitte meine Frage,“ unterbricht der ermittelnde Beamte bestimmt und wiederholt diese. Der Beschuldigte schaut etwas verwundert. Die Protokollführerin verdreht die Augen und schaut den jungen Liberianer vorwurfsvoll an. Die Übersetzerin schaut auf ihr Handy und wischt sich den Schweiss von der Stirn.
Halten wir das Gespräch an dieser Stelle an.
Die Kommunikation aus Sicht der Gedankenwelt des Polizeibeamten:
Mühsam. Der Beschuldigte beantwortet meine Frage nicht. Er weicht aus, ist unpräzise in den Aussagen, vermeidet Augenkontakt und schaut immer wieder auf seine Füsse. Er hat zwar kooperiert, aber wahrscheinlich nur weil die Beweislage mit den gefunden Materialien belastend war. Nun versucht er auszuweichen.
Fazit: Er beschliesst, den Ton zu verschärfen und den Druck zu erhöhen.
Die Kommunikation aus Sicht der Gedankenwelt des Beschuldigten:
Er (der Beamte), stellt eine Frage aber lässt mich gar nicht zu Wort kommen. Er und die Protokollarin schauen mich immer wieder in die Augen und wollen mich offensichtlich provozieren. Vieleicht übersetzt die Übersetzerin nicht gut? Warum darf ich die Fragen nicht beantworten und die Geschichte betreffend den Bahnhof in Biel erzählen? Dann wäre die Frage, die er gestellt hat beantwortet und sie würden sehen, dass ich nur gelegentlich in Bern deale, aber nicht in Biel.
Fazit: Diese Einvernahme ist wahrscheinlich mehr ein Alibi, da sie mir gar nicht zuhören wollen. Ich werde wegen meiner Hautfarbe nachteilig behandelt.
Solche, und ähnliche Situationen erlebe ich als Übersetzer oder als Beobachter in Situationen von Befragungen und Einvernahmen immer wieder. Die Antworten des Liberianers waren ausgeprägt kontextuell und indirekt. Er versucht, so wie er gelernt hat zu kommunizieren, Geschichten zu erzählen und so dem Zuhörer die Möglichkeit zu geben, das für ihn Wesentliche herauszunehmen. Viel Wichtiges wird angedeutet aber nicht explizit ausgesprochen. Natürlich versucht er auch, die beteiligten Autoritätspersonen nicht direkt anzuschauen, da dies von wenig Respekt zeugen würde. Aus gleichem Grund versucht er kurze Antworten zu vermeiden. Die Parasprache (Lautstärke, Tonalität) ist dafür ausdrücklich und laut um zu zeigen, dass er präsent ist und Verantwortung übernimmt.
Und die Wahrheit und „Verstehen des Erlebten“? Die bleibt, leider, grösstenteils auf der Strecke.
Zu gross sind die unterschiedlichen Kommunikationsformen der Beteiligten, zu starr sind die Vorstellungen wie „richtig“ zu kommunizieren ist, zu klein ist die Bereitschaft den Versuch zu wagen, dem Gegenüber als „Lernender der Kommunikation“ in diesem Moment entgegenzukommen.
Um im starren Korsett einer gesetzlichen Einvernahme wirkungsvoll zu kommunizieren, müssen alle Beteiligten, in ihren entsprechenden Rollen, zu Lernenden der Kommunikation werden. Das braucht Mut, führt aber zum Erfolg.
Dieser Fall ist frei erfunden, basiert aber auf persönlichen Erfahrungen aus meinem Berufsalltag.
Mark Moser